Rezensionen - Eine Auswahl


DER TAGESSPIEGEL, 14. 05. 98
von Kai Müller
Ein Symbol wird gesprengt

Abstich
... In vier Dokumentarfilmen hat Joachim Tschirner seit 1986 den Alltag der Menschen beschrieben, die hier über Generationen im Schatten der Hochöfen gelebt haben Als 1992 die weitgehende Stilllegung des Werkes beschlossen wurde, kehrte Tschirner mit seinem Partner Burghard Drachsel in die Maxhütte zurück, um In einem fünften Film auch ihr letztes Kapitel festzuhalten. Sie wollten den letzten "Abstich" erleben, bevor die Hochöfen für immer gelöscht wurde. Denn ein "Abstich" ist für die Stahlarbeiter ein besonderer Augenblick ... 
Die beiden Filmemacher erzählen in fünf Einzelportrais, wie die Menschen, mit der neuen Situation fertig werden, wie sie Zukunftsperspektiven entwickeln oder zur Untätigkeit verdammt bleiben und verkraften müssen, dass ihre Ausbildung keinen Wert mehr hat. Es ist der Versuch, die sozialen Tatsachen hinter Formeln wie "reduzierte Strukturen" und "soziale Abfederung" zu entdecken...
"Die Legenden sind wertlos geworden" heißt es, und doch will der Film sie weitererzählen...  
Tschirner und Drachsel begreifen den Zusammenbruch als Beginn vieler kleiner Aufbrüche, was ihrem Film eine sympathische Note verleihen. Außerdem spürt man, dass sie fasziniert waren von der aufrichtigen Herzlichkeit einfacher Arbeiter. Eine Welt, die so frei ist von komplizierten Regungen, hat es nicht verdient, sich dem Leistungsdruck des neuen Systems aussetzen zu müssen.
 

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. 06. 98
von Hans-Jörg Rother

Abstich
... Detonationen sind die Satzzeichen dieser Dokumentation. Mit grimmiger Lust schaut die Kamera den über die letzten fünf Jahre verteilten Sprengungen des verrotteten Stahlwerks im südthüringischen Unterwellenborn zu, und die aufgeschreckte Seele hat erst Ruhe, als auch der Schlot mit Inschrift "VEB" zur Erde sinkt. Warum das Gemüt so aufgeregt ist, verrät der Ausschnitt aus einem Defa-Film von 1948, wo mit markiger Stimme der Einsatz von zweitausendsiebenhundert Helfern beim Bau einer dringend benötigten Wasserleitung für das seinerzeit einzige intakte Stahlwerk auf ostdeutschem Boden gefeiert wird.Viele Ideologen der DDR haben an die legendäre Aktion erinnert, wenn sie zur Jugend sprachen, denn Enthusiasmus wurde auch später gebraucht, nur dass er dann nicht mehr, für ein Butterbrot zu haben war.

Das Pathos des zähen "Und es muss uns doch gelingen", wie es in der DDR-Nationalhymne, hieß, ist dem Grimm und einer zaghaften Begeisterung für die Modernisierung gewichen. Respektvoll begleiten Joachim Tschirner und sein Koregisseur Burghard Drachsel den Manager aus Luxemburg, unter dessen Leitung ein für die Welt vorbildliches Elektrostahlwerk aufgebaut wurde. Ihr Können entfalten die Autoren vor allem dann, wenn sie zwei in Pension geschickte Stahlwerker beim Erinnerungsgang durch die zum Abriss freigegebenen Werkhallen begleiten, über deren, oft mit einer zornigen Geste abgebrochenen Erinnerungen das Wort "umsonst" liegt.

Nun arbeiten sie am eigenen Häuschen, dessen neuen Wohlstand sie. stolz vorweisen, weil sie den Betrieb nicht mehr den ihren nennen können, was er allerdings auch nie war. Die Lebensart der beiden schwer atmenden Männer, zu deren engem Kreis auch ein in ihrer Brigade mitgeführter, nun viel mehr vom Umbruch betroffener Maler gehört, gibt dem Film sein bodenständiges Ferment, das stärker beeindruckt als die vielen Zahlen in Tschirners freilich sehr persönlichem Kommentar.

"Abstich" will mehr sein als eine Sammlung zeitgenössischer Porträts. Der Ehrgeiz, Ende und Neuanfang eines Industriestandortes zu vermitteln, trieb die Autoren des auch vom Bundesinnenministerium gestützten Projektes zu einer fast unüberschaubaren Folge von Befragungen meist jüngerer Leute am Ort, die den Sprung in die Selbständigkeit gewagt, einen neuen Beruf ergriffen, eine Umschulung genutzt haben. Wieder kommt der alte Regionalstolz ins Spiel, wenn ein früherer Forschungsingenieur als umtriebiger Unternehmer die von ihm entwickelte Umwelttechnologie bis nach China verkauft, und wieder fühlen sich die Regisseure als Fürsprecher der Schwachen, wenn sie eine Arbeit suchende Mutter, die den Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen will, zu Wort kommen lassen: Dass niemand sie braucht, da das neue Werk mit einem Zehntel der Beschäftigten auskommt, will ihr nicht in den Kopf. "Man kämpft jeden Tag aufs neue."

Wie ein Segensspruch hängt über dem Gesamtbild das Wort des Luxemburgers, dass die Menschen hier ihre Minderwertigkeitsgefühle, die aus der alten Zeit stammen, überhaupt nicht nötig haben. Ermutigend soll wohl auch das Bild des Drachenfliegers sein, der sich zu Beginn dem warmen Aufwind aus dem Tal überlässt. Von Sprengungen und Schrottbergen weiß er nichts.

Sonntag, 27/85
Mikis Theodorakis und Jannis Ritsos in Dresden

... und am Ende das Konzert

...Man spürt eine unbändige Vorfreude, Sensibilisierung für die Kunst. Das Konzert wird mit dem Auftakt ausgeblendet. Der dramaturgische Einfall bewahrt den Film vor der Beweisnot, es ist auch ganz unwichtig, ob das Konzert nun meisterhaft wird oder nicht. Es geht um den Prozess der Aneignung von Kunst, den man nicht auf Punkt und Höhepunkt bringen kann.

Märkische Volksstimme, 19.Juni 1986
von Regina Scheer

Der minoische Frieden 
Unmittelbar nach "und am Ende DAS KONZERT" produzierte Joachim Tschirner den "Minoischen Frieden", einen kurzen, eindringlichen Streifen. Der Palast von Knossos wird gezeigt und kommentiert, dieses über 3000 Jahre alte steinerne Zeugnis der ältesten Hochkultur Europas. Man wird mit der Schönheit konfrontiert, mit der von Menschen geschaffenen zweckmäßigen Schönheit - und mit ihrer Vergänglichkeit. Im Vor- und Abspann sehen wir den Palast von Knossos als seltsam unterkühlte Grafik entstehen, von einem Computer ausgeführt. Man assoziiert die Bedrohung des Menschlichen durch vom Menschen abgelöste, gegen seine natürlichen Interessen verwendete Technik, die es aufzuhalten gilt. Der Regisseur Joachim Tschirner hat seine Sprache gefunden. Die Kameramänner... waren ihm gleichwertige Partner bei diesen Filmen, ebenso wie die Schnittmeisterin Karin Schöning und der Mischtonmeister Peter Dienst.

Frankfurter Rundschau, 10.12.91

Katrins Hütte

In den Filmen von Tschirner und Tetzlaff zeigt sich noch einmal eine besondere Qualität des DEFA-Dokumentarfilmes: die Langzeitbeobachtung...
Am eindringlichsten wirkten Porträts junger Leute in der Wende, die schon vorher in anderen Filmen der Regisseure Kurt Tetzlaff und Joachim Tschirner vor der Kamera gestanden hatten... Tschirner beschwört in Archivaufnahmen noch einmal den Aufbauenthusiasmus der frühen DDR-Jahre, in bereits vor der "Wende" gedrehten Sequenzen spricht Katrin offen über ihre negativen Erfahrungen in der FDJ-Fraktion, wo ihr alle Illusionen über eine Wahrnehmung demokratischer Mitbestimmung als Volksvertreterin genommen wurden...

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. 05. 99
von Hans-Jörg Rother
Es war einmal ein Meer. Geblieben ist nur Wüstensand.

Der Aralsee - Wo das Wasser endet, endet die Erde

Die Atlanten aus den siebziger Jahren zeigen das usbekische Muinak noch als Hafenstadt, gelegen an der Mündung des Syr-Darja in den Aralsee, den die Russen ein Meer nennen. Heute verrinnt der von den Gletschern des Pamir-Gebirges strömende Fluss in der Nähe des Ortes im Wüstensand, und die Küste hat sich hundert Kilometer weit nach Norden zurückgezogen. In der Mitte Asiens wurde der gigantomanischen sowjetischen Landwirtschaftspolitik eine der größten Naturkatastrophen der Erde angerichtet. Denn das Flusswasser ist kurzerhand auf die stark vergrößerten Baumwollplantagen geleitet worden, von wo es bestenfalls, durch Pestizide verdorben, als Grundwasser zu den Bewohnern von Muinak gelangt, die wiederum in den Baumwollfeldern arbeiten.

Tschirner wollte sich der elegischen Stimmung nicht hingeben, die den “Katastrophentouristen” schon bei den Satellitenbildern vom Aralsee, erst recht aber beim eigenen Blick auf die fortschreitende Wüstenbildung leicht überkommen kann und die von Archivaufnahmen rauschender Meereswellen, praller Fischnetze und fröhlicher Arbeitsbrigaden nur verstärkt werden könnte. Nach seinem ersten Besuch gründete er den gemeinnützigen Verein “Wasser für die Kinder des Aralsees”, als dessen Mitglied er unter anderen den griechischen Komponisten Mikis Theodorakis gewann. Sein Film setzt darum auch einen Konvoi mit Medikamenten und medizinischen Ausrüstungen parallel zur Ortsbesichtigung ins Bild, und dann sieht sich der Zuschauer nach New York versetzt, wo eine couragierte usbekische Ärztin vor dem Plenum einer UN-Umweltkonferenz in New York drei Minuten lang die Not ihrer Heimat darstellen darf. Kaum jemand hört ihr zu.

“Wenn du nur Wasser für einen Baum hast, pflanze keinen zweiten”, zitiert ein Alter mit schütterem Bart ein mittelasiatisches Sprichwort.
... Nicht die Weltbank, die Tschirner mit vorwurfsvollem Unterton um Auskunft über ihr Engagement für den Aralsee bittet, sondern allein die Vernunft der Anrainer kann die Natur wieder mit sich selbst versöhnen. Wenn der Film nicht erörtert, nicht den guten Willen demonstriert, überzeugt er am meisten. Christian Maletzkes Bilder haben eine tiefe Perspektive, als suchten sie fortwährend das verschwundene Meer. Wenn verrostete Schiffleiber mitten aus dem vom Wind aufgewirbelten Wüstensand ragen, bedarf es keiner Worte mehr.

Berliner Zeitung, 26. 05. 99
von Regine Sylvester

Wie ein Meer verschwindet
Der Aralsee
Mit der Seele ist etwas passiert.

Nur Archivmaterial zeigt noch die Zeit, als es hier Wälder mit Tigern und Schakalen gab, als die Fischer Störe fingen und die Kinder bei ihren Dörfern im Meer badeten.
... Der Dokumentarist Joachim Tschirner hat 86 Minuten, um über diese von Menschen verursachte Umweltkatastrophe zu erzählen. Danach bleibt ein seltenes Gefühl bei Fernsehsendungen zurück: an etwas Wesentlichem beteiligt worden zu sein. So könnte das Ende der Welt anfangen – wenn ein alter Usbeke, der seine Lieder vergessen hat, sagt: “Mit der Seele ist etwas passiert.” Es ist ein zärtlicher Film über Würde, Anmut und Überlebenswillen, trotz niederschmetternden Informationen. Es ist ein Film der sinnlichen Bilder, trotz einer argumentativen Kette aus mehreren Handlungssträngen.

Am Ende des Films gibt es einen Ortswechsel: Da erkämpft eine Ärztin vom Aralsee nach ermüdender Lobbyarbeit drei Minuten Redezeit im UNO-Hauptquartier in New York. Ihre Chance, Aber hier spricht fast jeder vom Unglück in der Welt. Nicht einmal der Chairman hört der Frau zu. Dieser Film hätte noch eine andere Chance haben können – die Hauptsendezeit in unseren Medien. Aber er läuft nachts im dritten Programm. Man muss wachbleiben.

Neue Osnabrücker Zeitung, 24. 09. 2001

Giftige Schiffe
Der Schrecken der Seefahrt

Für Meeresbiologen ist es ein faszinierender Forschungsgegenstand, für Reeder jedoch der Schrecken der Seefahrt: Fouling nennen sie den Unterwasserbewuchs an den Schiffen, bestehend aus Algen, Seepocken und Muscheln. Selbst wenn diese Schicht nur 0,2 Millimeter dick ist, erhöht sie den Treibstoffverbrauch und beeinflusst neben der Geschwindigkeit auch die Manövrierfähigkeit.
... Der Regisseur wirft den Herstellern vor, Schiffsfarben mit TBT auf den Markt gebracht zu haben, ohne genügend die Folgen für das Ökosystem des Meeres getestet zu haben. Während die Produzenten behaupten, das Gift sei in der Umwelt rasch abbaubar und damit seien keine bedeutenden Risiken verbunden, erklärt der Frankfurter Biologe Jörg Oehlmann, bereits winzige Mengen in Nanogramm-Bereich - so viel wie ein Stückchen Würfelzucker in einem Stausee - könnten unerwünschte Wirkungen wie eine Vermännlichung von Purpurschnecken bewirken.

Tschirners Beitrag wirkt solide recherchiert. Auch wenn der Regisseur den Positionen von Umweltorganisationen wie Greenpeace und dem WWF nahesteht, vermeidet er Anklagen in polemischem Ton. Gift, so macht er deutlich, gehört sogar zum normalen Stoffkreislauf der Natur dazu, allerdings nur, wenn sich dessen Wirkung auf die Zielorganismen beschränkt. 

 

 

Internationalen Festivalzeitung Sputnik 4/83

"Der Film CANTO GENERAL von Joachim Tschirner ist eine musikalisch-cineastische Inkarnation von Pablo Nerudas GROSSEM GESANG mit der Musik von Mikis Theodorakis. Das Gedicht des chilenischen Dichters ist Basis für das große orchestrale und chorische Fresko des griechischen Komponisten und ist durch einen deutschen Regisseur in die Sprache der Filmkunst übersetzt worden...."

Silberner Preis beim XIII.Internationalen Filmfestival in Moskau, 1983

Mannheimer Morgen, 11.Okt. 85

SAG HIMMEL. AUCH WENN KEINER IST
Begegnung mit Jannis Ritsos

...Dem Regisseur Joachim Tschirner (DDR) gelingt es ohne falsches Pathos, ohne eine erzwungene ideologische Botschaft, einen Künstler zu porträtieren, der sich zeit seines Lebens dem einfachen Volk der Fischer und Bauern verbunden fühlte und die Leiden der Armen und Erniedrigten in seinen Versen und Zeichnungen umsetzte. Mit Hilfe von alten Photos und historischem Filmmaterial werden die Stationen im Leben von Ritsos aufgezeichnet, dessen Leidensweg in die Verbannung gleichzeitig für die Geschichte des ganzen griechischen Volkes steht... Beeindruckend sind besonders die Gespräche mit dem Künstler in seiner Athener Wohnung, der ohne viel große Worte zu machen eine beseelte Ausstrahlung besitzt. Ein Künstler, der noch mit 75 Jahren seinen Kampf führt, "gegen die Verzweiflung und für das Leben".

Rhein-Neckar-Zeitung, 11.10.85

...Jannis Ritsos ist bei allem engagierten Widerstand und lautstarkem Protest in seinen Werken und seinem Leben ein ruhiger, nach Harmonie strebender Mensch. Der Film über sein Leben trägt diesem Aspekt Rechnung. Tschirner vermeidet Hektik und Unruhe in seinem Porträt. Bei der Zusammenstellung von Interview-Szenen, Dokumentarmaterial und Landschaftsbetrachtung geht er behutsam vor. Für den Menschen Ritsos, dessen Leben sich in der Umgebung und Historie widerspiegelt, nimmt er sich mit langen Einstellungen viel Zeit. Dafür braucht man Mut. So erkennt Tschirner auch, daß der Dichter Ritsos und die Geschichte Griechenlands nicht voneinander zu trennen sind. Die Biografie des Künstlers ist gleichzeitig ein sensibel umgesetztes Porträt seines Heimatlandes."

KATRIN

Tribüne, 17.10. 86

"...Stummer Interviewpartner ist die unbestechliche Kamera (Rainer Schulz). Der Zuschauer beobachtet eine junge Frau in Situationen der Entscheidungssicherheit und auch der Ratlosigkeit. Achtzehn Minuten lang zeigt der Streifen ungeschminkt, ohne jede Schönfärberei, wie eine Arbeit Lust macht, aber auch in Verzweiflung stürzen kann."

Rapport

Neun Stunden bleibt die Kamera dem Mann mit der zunächst filmisch unattraktiv anmutenden Funktion auf der Spur. Platz seiner Auseinandersetzungen sind ja meist Telefon und Sitzungstisch. Doch man begreift Aufregungen, Ungewissheiten, Entscheidungszwänge. 150 Waggons voll Erz täglich schlucken die Öfen. Was geschieht, wenn Lieferung ausbleibt?...

Filmspiegel, Okt. '87

"Ungewöhnlich der 'Rapport' zudem, weil hier ein komplizierter Prozess dargestellt wird, eine sehr schwierige Situation im Bereich Roheisen der Maxhütte Unterwellenborn. Erze zum Beschicken der Öfen fehlen, stehen irgendwo eingeschneit, festgefroren auf Nebengleisen der Reichsbahn. Das bedeutet Stillegung der Öfen. Eine filmische Berichterstattung darüber. Aber am Ende steht kein Happy-End, nicht die Doch-Ofen-Beschickung und Erst-recht-Planerfüllung, sondern das konstruktive Nachdenken über Dinge oder 'Unwägbarkeiten', wie es im Film heißt, die der Änderung bedürfen..."

Münchner Merkur, 6.4.1991

Ein schmales Stück Deutschland

...Da entstehen Sätze, die ein genialer Autor nicht besser erfinden könnte: "Wir waren immer still", wiederholt eine Mutter zu tiefst erschüttert und verunsichert an die zehn Mal: Ihr Sohn wurde bei einem Fluchtversuch an der deutsch-deutschen Grenze angeschossen und wäre beinahe verblutet. Um der Brutalität auch noch die Krone aufzusetzen, forderten die DDR-Behörden von den Eltern 5000 Mark Schadenersatz "für den beschädigten Grenzzaun". So eingebettet, verschaffen die beeindruckenden, mit durchaus ästhetisierendem Blick aufgenommene Bilder vom Abbruch der Wachtürme dem Zuschauer echte Erleichterung. Man beobachtet, wie erstaunlich leicht sich diese Symbole der Gefangenschaft umreißen ließen, und man denkt, wie lange es dennoch gedauert hat, bis es soweit war...

Freitag, Berlin, 27.3.1992

KEIN ABSCHIED - NUR fORT

...die nachhaltigsten Eindrücke hinterließ bei mir KEIN ABSCHIED - NUR FORT. Wie im Zeitraffer können wir mitverfolgen, wie soziale Anpassung funktioniert, wie DDR- zu BRD-Bürger mutieren... Der Film bewertet diese Lernprozesse nicht; dass Hohmann und Tschirner mit der Haltung des Maurers sympathisieren, kann man nur daran ablesen, dass sie seine Schlussfolgerungen ans Ende des Filmes stellten. Die halten, auch in ihren Einstellungsgrößen, eine Distanz zu ihren Figuren. die den kühlen, genauen Blick auf sie erlaubt: detailscharfe, ruhige Bilder in Schwarz-weiß, unterlegt mit Originaltönen, in denen immer auch die Orte und die Pausen, das Nichtgesagte zu hören sind.

Süddeutsche Zeitung München, 5.10.91

Spröde und eigenwillig entfaltete dieser Dokumentarfilm aus der Defa-Schule seine Wirkung: kein schnelles Augenfutter, kein Potpourri, sondern das allmähliche Einkreisen von Menschen, Schicksalen, Entwicklungen, mit minimalen dramaturgischen Eingriffen der Autoren...
 

Kino-Zeit, 2010
Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Yellow Cake - 
Die Lüge von der sauberen Energie

UNSERE STRAHLENDE ZUKUNFT

Wohin mit dem radioaktiven Müll?“ ist seit vielen Jahren einer der brisanten politischen Streitpunkte in Deutschland. Der Streit um das geplante Atomendlager Gorleben und die skandalösen Berichte um die Erprobung der Schachtanlage Asse II sind ein Thema, das die Menschen auf die Straße bringt — auch und gerade in den letzten Monaten. Weitgehend von der Öffentlichkeit unbemerkt hingegen ist ein Problem im Zusammenhang mit der Atomenergie, das mindestens ebenso wichtig erscheint: Was passiert mit den Hinterlassenschaften des Uranerzbergbaus? Der Dokumentarfilmer Joachim Tschirner hat mit Yellow Cake: Die Lüge von der sauberen Energie einen Film über das Thema gedreht, der einem Angst und Bange macht.

Der Film beginnt in Deutschland und wirkt mit seinen Bildern beinahe wie die Aufarbeitung einer bislang sträflich vernachlässigten deutsch-deutschen Geschichte: Bis 1990 existierte in Thüringen und Sachsen der drittgrößte Uranbergbau der Welt, bekannt unter dem Namen „Deutsch-sowjetische Aktiengesellschaft Wismut“. Bis zur Schließung der Anlage wurden hier 220.000 Tonnen Uran (was ungefähr der Menge entspricht, die man für 32.000 Hiroshima-Bomben gebraucht hätte) in die damalige Sowjetunion geliefert, 120.000 Menschen arbeiteten hier. Seit der Schließung sind fast sieben Milliarden Euro in die Aufräumarbeiten geflossen, mehrere Tausend Bergleute sind hier beschäftigt, die Hinterlassenschaften der eigenen Vergangenheit zu beseitigen – eine Ende der Maßnahmen ist aber noch lange nicht in Sicht.
... Neben Deutschland hat Joachim Tschirner fünf Jahre lang für
Yellow Cake: Die Lüge von der sauberen Energie in Namibia, Australien und Kanada recherchiert und gedreht. Die Mischung aus Leichtsinn, Profitgier und Ohnmacht seitens der Betroffenen ist überall stets die gleiche. Umso mehr Bewunderung muss man für die Aborigines in Australien empfinden, die bislang allen Angeboten, ihr angestammtes Land gegen Millionensummen zu verlassen, widerstanden haben. Ähnlich viel Rückgrat würde man sich im Fall des Uranbergbaus auch mal gerne von Seiten der Politik wünschen – die Hoffnung ist mit Blick auf die jüngst gefallenen Entscheidungen in Berlin allerdings recht aussichtslos.

Das Problem ist nur: Diejenigen, die aus diesem Film ihre Lehren ziehen könnten, werden einen Teufel tun, ihn sich anzuschauen. Und diejenigen, die ihn sich anschauen, sind sowieso gegen die fragwürdigen „Segnungen“ der Atomkraft. Bei aller Akribie und aufklärerischen Arbeit, die Joachim Tschirner mit seinem Film leistet, haftet dem Werk der vermeintliche „Makel“ der vergeblichen Liebesmüh an. Was aber keineswegs als Argument gegen Yellow Cake: Die Lüge von der sauberen Energie verstanden werden soll, sondern eher als Resignation angesichts der normativen Kraft des Faktischen.
... Hans-Eckhardt Wenzels Lied „Erst nach 100 Jahren… wasch ich mir Gesicht und Hände“, das den Film wie ein Leitmotiv durchzieht und das auf einem Song des Folk-Poeten Woody Guthrie beruht, erscheint angesichts der Langlebigkeit des Problems, das hier geschaffen wurde, wie ein höhnisch-verzweifelter Kommentar. Bis zu 1,4 Milliarden Jahre strahlen die Abfallprodukte, die ungesichert gelagert werden. Und mit Händewaschen ist es auch nicht getan – beängstigende Aussichten für die versprochene strahlende Zukunft.

Ludwiogsburger Zeitung, 09.07.2011
Eine Filmkritik von Fran Klein

Yellow Cake - 
Die Lüge von der sauberen Energie

... Insgesamt 98 Stunden Material hat Tschirner aufgenommen und in der endgültigen Fassung auf knapp zwei Stunden zusammengeschnitten. Entstanden ist ein Film, dessen Bilder eine eigenartige, zutiefst verstörende Ästhetik ausstrahlen. Denn  der uranabbau geht mit einer Umweltzerstörung gigantischen Ausmaßes einher...

Mit eindrucksvollen Luftbildaufnahmen macht Tschirner die unglaublichen Dimensionen dieses Raubbaus an der Natur fassbar...